FlaMa oder … Tauben fliegen auf

Es geschieht jeden Tag. Städte wechseln ihr Gesicht und Bewohner ihre angestammten Quartiere. Ein Beispiel ist die Weststrasse in Zürich. Die schafft es bis in preisgekrönte Literatur.

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Im Jahre 2010 erhält die in Serbien geborene und 1973 als kleines Mädchen mit den Eltern in die Schweiz eingewanderte Schriftstellerin Melinda Nadj Abonji den Deutschen und den Schweizer Buchpreis. Für ihren Roman “Tauben fliegen auf”. Abonji schildert, wie sich die Familie müht, in der Wahlheimat Fuß zu fassen, anerkannt und schließlich eingebürgert zu werden. Ein eigener Gasthof am rechten Zürichseeufer, Cafeteria Mondial genannt,  ist Lohn und Fluch zugleich. Als alles so einigermaßen ins Lot kommt, fliegt die Taube auf (und davon). Melinda studiert in Zürich, stürzt sich ins großstädtische Leben. Ihr Glück wird perfekt mit dem Einzug in die eigene (Miet-) Wohnung. “Ich wohne mitten in der Stadt, an einer Autobahn, meine winzige Wohnung liegt an der so genannten West-Tangente, tausend Autos und hundert Lastwagen fahren stündlich an mir vorbei, Richtung Chur, ich, auf meinem Bett sitzend, denke an Wörter wie “Verkehrsstrom” oder “Verkehrsfluss”… “Auspuff der Nation” wird die Straße genannt, die … Weststrasse” heißt (1).

Anfang Mai 2009 wird der Ütliberg-Tunnel eingeweiht und die Westumfahrung Zürich freigegeben. Durchgangsverkehre aus und nach den Alpen müssen nicht mehr durch die Innenstadt geleitet werden. Sie bleiben auf der Autobahn. Das aufwändige Verkehrsbauprojekt wird begleitet von “Flankierenden Maßnahmen”, kurz FlaMa genannt. Dazu gehören der Umbau von bislang Hauptverkehrsstraßen zu Quartiersstraßen. Eine von denen ist die zentrumsnahe Weststrasse. Quasi über Nacht wird es ruhiger. Anstelle breiter Fahrbahnen werden sukzessive Geh-und Radwege saniert bzw. neu angelegt. Stadtmöbel und Stadtgrün folgen. Die Bewohner des Viertels, unter ihnen viele Immigranten wie Frau Abonji, nehmen den öffentlichen Raum in Besitz. Die Straße wird zum außerhäuslichen Lebensbereich.

Im Dezember 2009 legen die Stadt Zürich und die Zürcher Hochschule der Künste eine Studie vor, in der das bisherige Leben in der Weststrasse untersucht und fotografisch dokumentiert wird. Die Autoren schreiben, dass “die Weststrasse geradezu ein «Modellfall» (ist), an dem sich ablesen lässt, wie Entscheide und Massnahmen der öffentlichen Hand – hier die Festlegung von Verkehrsregimes und die Aufwertung des Strassenraums – auf die Akteure des privaten Liegenschaftsmarkts einwirken” (2).

Wenige Jahre später spürt man die Veränderungen. Am 1.November 2010 titelt der “Blick”: In Zürich weichen Bäume hohen Mietpreisen. Und nennt als Beispiel die Weststrasse (auch ohne Bäume, Anm. d. Verf.). Am 17. Februar 2015 berichtet das “Tagblatt der Stadt Zürich” Eine Strasse erfindet sich neu: Der Reporter vermerkt, dass der frühere “Auspuff der Nation” rund fünf Jahre nach der Verkehrsberuhigung den Wandel zum Trendquartier endgültig vollzogen hat.  2015 stellt ein Student der Zürcher Universität in seiner Masterarbeit  fest: “Diese neuen urbanen Qualitäten führen zu einer Attraktivitätssteigerung … Die erhöhte Nachfrage, und ein hoher Anteil gut situierter Haushalte unter den Zuziehenden, treiben die potenziellen Mieteinnahmen in die Höhe … (bei) planerische(n Eingriffen), wie z.B. die Verkehrsberuhigung an der Weststrasse, werden vermehrt einzelne Gebäude … saniert. Die Bewohnenden müssen trotz Mieterschutz ausziehen und können sich die erhöhten Mietpreise … nicht mehr leisten. Auf diese Weise kommt es zu einer Verdrängung bestimmter Bevölkerungsgruppen.” (3). Aktuelle Immobilienanzeigen werben mit top-sanierten Altbau- und modernen Neubauwohnungen. Für 2- und 3-Zimmer – Wohnungen kommt man schnell auf Mieten von 2.500 und mehr Schweizer Franken.

Fast nostalgisch klingt es, wenn Abonji schreibt: “Um Mitternacht ziehe ich meine Jacke an, öffne die Fenster, lüfte, die Weststrasse, die von Mitternacht bis sechs Uhr in der Früh gesperrt ist, ich schaue links die Straße hinunter, sehe den Radfahrern zu, die in die Gegenrichtung radeln, manchmal freihändig, manchmal lauthals singend, und ich rauche eine Zigarette in die kalte Novemberluft hinaus” (1). Dann fliegt die Taube auf und weiter, von der Weststrasse weg.

Warum ich das aufschreibe? Im Jahre 2006 arbeitete ich mit an den Verkehrsmanagementplänen für die Westumfahrung Zürich. Habe die unsäglichen Verkehrsbelastungen in der Seebahn- und Weststrasse gesehen. Und erstmals etwas von den FlaMa gehört. Später las ich den Roman der serbischen Schweizerin und vor nicht allzu langer Zeit entdeckte ich in der NZZ einen Beitrag zum Wandel des Quartiers an der Weststrasse. Ein Beispiel von vielen. Auch dafür, das ein gelöstes Problem durchaus neue hervorrufen kann. Gestern erwähnte ich die Weststrasse kurz in einem Gastvortrag an der Technischen Universität Dresden. Sein Titel: “VerkehrManagementPlanung – Grundlagen und praktische Erfahrungen aus der Schweiz”.  

(1)   Melinda Nadj Abonji: Tauben fliegen auf; Deutscher Taschenbuch Verlag München 2012

(2)    Weststrasse im Wandel –  Zwei Untersuchungen zum Leben an der Weststrasse – eine Befragung und eine fotografische Erkundung; Stadt Zürich, Stadtentwicklung; Zürcher Hochschule der Künste, Dezember 2008

(3)   Sebastian Wolf: “Bevölkerungsdynamik und Bautätigkeit in der Stadt Zürich: Eine raumzeitliche Analyse kleinräumiger Stadtentwicklungsprozesse”; Masterarbeit GEO 511, Geografisches Institut der Universität Zürich, September 2015

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