Heute ist Mittwoch, der 19. April 2017. Vor genau fünfzig Jahren war das ebenfalls ein Mittwoch. So ziemlich das Einzige, was diese beiden Daten verbindet. Außer der Tatsache, dass eine Zeitung von damals den Anfang meines privaten Archivs bildet, dessen Jubiläum ich heute feiern kann.
Auf dem Kalender 1967 meiner Großeltern sind die Tage der “große Wäsche” eingetragen. Und wann sie die Treppe des Mietshauses kehren und wischen müssen. Ich habe damals noch eingefügt, welche Samstage arbeitsfrei sind. Das war jeder zweite. Erst im darauffolgenden Herbst begann die durchgehende Fünftagearbeitswoche. Beschlossen und bejubelt auf dem 7. Parteitag der SED. Nachzulesen in der Zeitung “Die Union” vom 19. April 1967. Sie ist das erste Dokument in meinem privaten Archiv, das ich als Teenager begann.
[Auf die bildliche Wiedergabe der gesamten ersten Seite verzichte ich, um Streit wegen des Copyrights zu vermeiden.]
Am gleichen Tag starb Konrad Adenauer. Er hat wohl nicht mehr gehört, was Walter Ulbricht den Delegierten des Parteitags verkündete: “ Wir deutschen Marxisten und Leninisten haben niemals den einheitlichen, friedlichen und fortschrittlichen, den demokratischen und antiimperialistischen deutschen Staat abgeschrieben und werden das auch niemals tun.” Doch bis es soweit ist, dass “die Arbeiterklasse der beiden deutschen Staaten … das wieder einen kann… was der Imperialismus gesprengt hat”, wird in der DDR “das entwickelte gesellschaftliche System des Sozialismus” gestaltet. Die Losung war ein Zungenbrecher und in der Schule hatten wir Mühe, sie richtig aufzusagen. Nicht viel besser ging es uns mit Gedichten, die wir in Russisch lernen und deklamieren mussten, anlässlich des fünfzigsten Jahrestags der Oktoberrevolution, der im November 1967 folgte. Vordem setzte der Junikrieg zwischen Israel und seinen Nachbarn die Welt in Unruhe. Im Jahr darauf der Mai 68 und der militärische Einmarsch des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei. Und dann kam “ a man named Armstrong”. Den USA gelang der erste bemannte Flug auf den Mond. Von allen diesen Ereignissen hob ich Zeitungsartikel auf. Sammelte sie in Jahreschroniken und Themenordnern. Politik und Wirtschaft, Religion und Kirche, Natur- und Gesellschaftswissenschaften, Kunst.
Egal, was ich gerade war und tat, ob Schüler oder Student, Soldat oder Schlafwagenschaffner, Mitarbeiter oder Manager oder Freiberufler, das Archiv wurde jedes Jahr fortgeführt. “Die Union” war die erste Zeitung. Es folgten die “Junge Welt”, das “ND” und die “Berliner Zeitung”, “Der Tagesspiegel” und die FAZ, die “Neue Zürcher Zeitung”. Besonders wichtig waren mir in den 80er Jahren die deutschsprachige polnische Zeitung “Zycze Warszawy” und die “Budapester Rundschau”. Aus Ungarn stammt mein erster ausländischer Zeitungsartikel. Am 9. Juli 1967 schrieb die dortige deutsch-englische Gazette “Daily News” über den Aufstieg von Mao Tse Tung, der sich gerade zum dreißigsten Male jährte. Diese ungewöhnliche Zeitung hatten wir in Budapest entdeckt.
Seit Ende der 90er Jahre lese ich nur gelegentlich Zeitungen. Für die Jahreschroniken nutze ich meist den Rückblick im “Spiegel”.
“Die Union” ist schon lange keine eigenständige Zeitung mehr. An sie erinnert jedoch der Untertitel der “Dresdner Neuesten Nachrichten”. Heute kaufte ich deren aktuelle Ausgabe. Ob ein Artikel daraus mir des Aufhebens wert erscheint, entscheide ich erst später. Wenn sich zeigt, ob das, was heute Schlagzeilen macht, nicht morgen schon marginal geworden ist. Für die Tagespolitik sind die meisten Berichte ebenso elektronisch abrufbar wie für alle anderen Themen. Mein papiernes Zeitungsarchiv dient ohnehin seit vielen Jahren nicht mehr als Chronik, sondern ist ein kleiner und eher zufälliger Ausschnitt des Bildes, wie ich die Gegenwart sehe. Genaugenommen gilt das vom ersten Tage an. Heute wie vor fünfzig Jahren. Der 17. April 2017 ist für mich ein besonderer Tag.