Zehn Tage weilten wir in H. Einem kleinen Ort zwischen Böhmerwald und Bayrischem Wald. Also hinter dem Wald. Wo viertelstündlich läutende Kirchenglocken den Tagesrhythmus angeben und abends nur noch selten ein Autolicht am Horizont auftaucht. Bevor der Ort gänzlich zur Ruhe kommt. Anders als im Kopf des Hinterwäldlers, wo sich Gedanken breitmachen.
Früher hieß das ganze Gebirge Böhmerwald, bevor es im westlichen Teil Bayrischer Wald genannt wurde. Las ich vor der Ankunft im Reiseführer und dachte darüber zunächst nicht weiter nach. Doch als wir in H. einfuhren und eine Brücke überquerten, war ich das erste Mal überrascht. Dort steht ein Schild “Kalte Moldau”. Nun waren wir schon mehrmals im Böhmerwald gewesen und wussten, die Moldau beginnt doppelt, als Kalte und Warme, die sich später vereinigen. Doch das ausgerechnet dieses tschechisches Nationalsymbol eine seiner Quellen in Bayern hat, verblüffte mich (ob meiner bisherigen Unkenntnis). Nun gut, am anderen Ende in Melnik mündet der breitere Fluss Moldau in die schmale Elbe. Gibt ihr sein Wasser und lässt seinen Namen. Ein Thema, was bis heute Geografen und Historiker beschäftigt. Der journalistische Schriftsteller (oder schriftstellernde Journalist) Uwe Rada bemerkt hierzu in seinem wunderbaren Buch “Die Elbe – Europas Geschichte im Fluss”: “Vor allem aber spielt eine Rolle, dass die bis heute gängigen Namen der Flüsse in der Antike von der Mündung stromaufwärts vergeben werden… Würden die Karten in Melnik nämlich neu gemischt, läge nicht Hamburg an der Moldau, sondern Prag an der Elbe.”
Während warmes gelbes Licht von den Straßenlaternen den kleinen Ort H. durch die Nacht begleitet, bevor ihn Morgennebel fast unsichtbar macht, greift der Hinterwäldler zum Smartphone und liest auf Wikipedia etwas über die Geschichte Bayerns. Die zweite Überraschung folgt. Eine der Wurzeln der “Bajuwaren” war der keltische Stamm der Boier. Gerade hatte ich bei Recherchen für mein aktuelles Projekt “Unterwegs zwischen Elbe und Oder” gelernt, dass der Name Böhmen denselben Ursprung hat. Also haben erst später neue Herrschaftsstrukturen und Grenzen zu dem geführt, was wir heute als verschiedene Völker kennen. Aber so ganz trennend war es – historisch betrachtet – immer nur kurze Zeit.
Schaut man sich heute im Dreiländereck Tschechien, Österreich und Deutschland um, so wimmelt es grenzüberschreitend von Steigen und Radwegen, Denkmalen und Museen, die alle einen Namen tragen: Adalbert Stifter. Die literarische Bedeutung des deutschsprachigen Schriftstellers, der von 1805 bis 1868 in der Region zwischen Moldau und Donau lebte, wird unterschiedlich beurteilt. Doch als Markenzeichen taugt er offensichtlich recht gut. Und so fällt dem Hinterwäldler ein, dass die europäische Modellregion „Donau-Moldau“ auch “Adalbert Stifter – Land” heißen könnte. Weil es mittendrin liegt. Was dann hoffentlich aber nicht zu Autonomieforderungen an München, Prag und Wien führt. Denn “trotz einer positiven wirtschaftlichen wie gesellschaftlichen Entwicklung haben die politisch Verantwortlichen dieser Dreiländer-Region einen erweiterten Handlungsbedarf in der grenzübergreifenden Regionalentwicklung festgestellt. Vor allem die sich verändernde Arbeitswelt und der demographische Wandel, aber auch Fragen der Mobilität und der künftigen Energieversorgung stellen die Partner vor neue Herausforderungen, die es gemeinsam durch die Bündelung von Potenzialen zu bewältigen gilt.” [Quelle:Webseite Euroregion Donau – Moldau]
Das sah schon vor mehr als einhundert Jahren ähnlich aus. Wo heute der “Adalbert-Stifter-Gedenk-Radweg” von Haidmühle nach Waldkirchen führt, verlief ab 1910 eine Bahntrasse, die Passau an der Donau mit Krummau (Český Krumlov) an der Moldau verband und erheblich zum wirtschaftlichen Aufschwung der Region beitrug. Der “Eiserne Vorhang” trennte die Verbindung, und als er 1989 fiel, hatte die Straße den Schienenverkehr abgelöst. Ein “Industriesteig” in H. und ein kleines Eisenbahnmuseum in Nove Udoli erinnern daran (Foto rechts). Im Jahre 2017 startete der Versuch, die Verbindung mit einer Kombination von Bahn und Bus für Touristen attraktiv zu machen. Als wir mitfahren wollten, gab es nur an Wochenenden Zugverkehr. Der Hinterwäldler in seiner ruhigen Idylle jedoch denkt an eine etwas andere “Reise in die Zukunft”. Autonom fahrende Züge, Kabinenbahnen oder Transporteinheiten fügen sich mit ihren Wegen in die Landschaft ein, bezwingen leichter als heutige Verkehrsmittel die Gebirge, verbinden Orte und Menschen und verbrauchen weniger Energie. Weil ein zurück zum Gestern nicht die Lösung von morgen ist.
Wir reisen ab. Mit dem Auto, hinten die Fahrräder aufgedockt. Manchmal kommt man auch als Hinterwäldler voran. Zumindest in Gedanken.
Anmerkung: Den Titel Hinterwäldler habe ich nur für mich gewählt. Die Einwohner von H. sind ihren Gästen gegenüber freundlich, hilfsbereit und aufgeschlossen. Die digitale Welt findet man dort ebenso wie ein modernes Restaurant. Wenn ich oft und gern von oben herab geschaut habe, dann nur, weil sich unser Apartment auf einer Anhöhe befand und weiten Ausblick bot.