Wroclaw (Breslau) ist europäische Kulturhauptstadt des Jahres 2016. Wer dorthin mit der Bahn fahren möchte, muss Zeit und manchmal auch etwas Geduld mitbringen. Eine kleine Reiseanleitung.
(Fotos: Stefan Grahl)
„Noch ist Polen nicht verloren“ lautet ins Deutsche übersetzt die erste Zeile der polnischen Nationalhymne. Ein Lied namens Mazurek Dąbrowskiego, das Ende des 18. Jahrhunderts entstand. Polen war von Österreich, Preußen und Russland besetzt. Erst 1918 erlangte es seine Nationalstaatlichkeit zurück. Und verlor sie einundzwanzig Jahre später erneut. 1945 beschlossen die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs, Polen als Staat mit neuen Grenzen wiedererstehen zu lassen. Deutschland musste Schlesien aufgeben und Breslau wurde zum polnischen Wroclaw. 2016 ist es neben dem spanischen San Sebastian europäische Kulturhauptstadt.
Die gute Nachricht: Eine Reise mit der Bahn nach Wroclaw ist möglich. Die weniger gute Nachricht: Es dauert lange und verlangt einige Kenntnisse. Von Berlin aus bietet die Deutsche Bahn eine Direktverbindung mit dem Bus (!) an. Oder mit dem Eurocity nach Poznań und dort umsteigen. Ab Dresden kann man ebenfalls mit dem Zug nach Wroclaw fahren.
Ich versuche ein Online-Ticket zu kaufen. Fehlanzeige. Das Gleiche am Fahrkartenautomaten. Ich gehe ins Reisezentrum der Deutschen Bahn im Bahnhof Dresden – Neustadt. Die Dame erklärt mir freundlich, dass sie keine Tickets nach Wroclaw verkaufen dürfe. Das könne ich nur beim Zugbegleiter. Als Orts- und Bahnkundiger weiß ich, dass die Strecke nach Görlitz von der Trilex – Bahngesellschaft bedient wird. Ich rufe deren Hotline an und bekomme kompetente Auskunft. Auf ihrer Website findet man den Button „Auf nach Polen“ und Informationen über die Reisemöglichkeiten zur europäischen Kulturhauptstadt. Ich bin froh und denke: Noch ist Polen nicht verloren…
Der Regionalexpress benötigt für die etwa 270 Kilometer lange Strecke mehr als dreieinhalb Stunden. Auf deutscher Seite hält er neunmal, auf der polnischen vierzehnmal. Zwischen Legnica und Wroclaw sind die beiden Triebwagen richtig voll und gute Stehplätze gefragt. Der Zug fährt meist recht schnell, in Polen auf der zweigleisig ausgebauten und elektrifizierten „Niederschlesischen Gütermagistrale“ (Quelle: Wikipedia, 09.03.2016). Die Haltepunkte entlang der Trasse wurden modernisiert, nur die größeren alten Bahnhöfe, zum Beispiel in Węgliniec, sehen traurig aus. Aber das ist nicht spezifisch polnisch…
Wroclaw empfängt seine Gäste im restaurierten historischen Hauptbahnhof, sehr sehenswert. Nur die Touristeninformation „versteckt“ sich hinter einem Schalterfenster, das man entdecken muss. Für den Besuch der Kulturhauptstadt empfiehlt sich ohnehin, vorher die Website der Stadt Wroclaw zu besuchen. Die ist auch in Deutsch zu lesen. Und es wird schnell klar: die Zeiten sind vorbei, in denen der Gebrauch der deutschen Ortsnamen in Schlesien ziemlich verpönt war. Breslau präsentiert sich als eine europäische Großstadt mit sehr wechselvoller Geschichte. Die Polen siedelten hier schon sehr früh, die Habsburger kamen und die Preußen, nicht immer friedlich, doch alle hinterließen Wichtiges.
Im Rathaus präsentiert eine Ausstellung „ 7 Cudów“ (7 Wunder)“, die sich in Breslau und Niederschlesien zugetragen haben. Der Rundgang beginnt bei einer Leihgabe des Kölner Erzbistums. Es handelt sich um einen in Deutsch geschriebenen Brief der polnischen Kardinäle aus dem Jahre 1965. Darin bitten sie ihre Brüder in Deutschland um Versöhnung. Zu den Unterzeichnern gehört Karol Wojtyla, den Meisten als der spätere Papst Johannes Paul II. bekannt. Ein ganz anderes Wunder ist einige Kabinen weiter zu besichtigen: Das Modell eines Mars-Mobils, dass Ingenieure aus Wroclaw für die NASA entworfen haben. Die Ausstellung verbindet Geschichte und Religion und Wissenschaft.
Für die Besichtigung von Wroclaw kann man sich bei Bikesharing-Unternehmen ein Fahrrad mieten. Noch sind nicht alle Uferpromenaden an der Oder fertiggestellt. Doch wenn der Frühling (wirklich) kommt, wird man dort Radfahren und flanieren und verweilen können.
Zurück zur Eisenbahn: Meine Reise verlief problemlos. Doch auf Dauer reicht es nicht, wenn zwei Nachbarregionen mit ihren Zuggesellschaften den Fernverkehr ersetzen. Die jenseits der Grenze gut ausgebaute Strecke nach Wroclaw bietet die Chance, wieder schnelle Reisezüge verkehren zu lassen. Manchmal stimuliert Angebot die Nachfrage. Wie heißt es so schön: Noch ist Polen nicht verloren!